II

»Bei den Göttern!« Der Wächter wich zurück und senkte die Laterne. »Was ist mit ihm?«

»Lass uns durch, guter Mann«, sagte leise Geralt, der den im Sattel zusammengesunkenen Rittersporn stützte. »Wir haben es eilig. Du siehst doch.«

»Ich sehe.« Der Wächter schluckte, als er das bleiche Gesicht des Dichters und sein von geronnenem Blut überzogenes Kinn betrachtete. »Ist er verwundet? Das sieht gar nicht gut aus, Herr.«

»Ich habe es eilig«, wiederholte Geralt. »Wir sind seit Tagesanbruch unterwegs. Lasst uns durch, bitte.«

»Wir können nicht«, sagte der zweite Wächter. »Durchs Tor darf man nur von Sonnenaufgang bis zum Untergang. Nachts ist kein Durchlass. So ist es befohlen. Für niemanden, es sei denn, er hat ein Zeichen vom König oder vom Bürgermeister. Oder er ist ein Edelmann von Geblüt.«

Rittersporn begann zu krächzen, krümmte sich noch mehr zusammen, stützte den Kopf auf die Mähne des Pferdes, erbebte, würgte mit einem Anfall von trockenem Brechreiz. Über das verzweigte, geronnene Muster auf dem Hals des Pferdes ergoss sich ein weiteres Rinnsal.

»Leute«, sagte Geralt, so ruhig er vermochte. »Ihr seht doch, dass es schlecht um ihn steht. Ich muss jemanden finden, der ihn heilt. Lasst uns bitte durch.«

»Bittet nicht.« Der Wächter stützte sich auf die Hellebarde. »Befehl ist Befehl. Wenn ich Euch durchlasse, komme ich an den Pranger, und man wirft mich aus dem Dienst, was soll ich dann den Kindern zu essen geben? Nein, Herr, ich kann nicht. Holt den Freund vom Pferd und bringt ihn in die Hütte am Vorwerk. Wir pflegen ihn, bis zum Morgen hält er durch, wenn es ihm vorbestimmt ist. Es dauert nicht mehr lange.«

»Pflege genügt hier nicht«, erwiderte der Hexer zähneknirschend. »Es muss ein Heiler her, ein Priester, ein fähiger Arzt . . .«

»So einen würdet Ihr nachts sowieso nicht aus dem Bett kriegen«, erklärte der andere Wächter. »So viel können wir für Euch tun, dass Ihr nicht bis zum Morgengrauen vor dem Tor sitzen müsst. In der Hütte ist es warm, und ein Lager für den Verwundeten findet sich auch, es wird besser für ihn sein als im Sattel. Kommt, wir helfen Euch, ihn vom Pferd zu heben.«

In der Hütte innerhalb des Vorwerkes war es wirklich warm, stickig und eng. Das Feuer knisterte lustig im Kamin, und hinter dem Kamin zirpte ausdauernd eine Grille.

An dem schweren quadratischen Tisch, auf dem Krüge und Teller standen, saßen drei Männer.

»Verzeiht, edle Herren«, sagte der Wächter, der Rittersporn stützte, »dass wir Euch stören ... Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen ... Dieser Ritter hier, hmm ... Und der andere, er ist verwundet, und da dachte ich . . .«

»Du hast richtig gedacht.« Einer der Männer wandte ihm das schmale, scharf geschnittene, ausdrucksvolle Gesicht zu und stand auf. »Weiter, legt ihn hier auf die Pritsche.«

Der Mann war ein Elf. Vermutlich ebenso wie der zweite, der am Tisch saß. Wie ihre Kleidung, die typische Mischung von Menschen- und Elfenmode, zeigte, waren beide sesshafte, assimilierte Elfen. Der dritte Mann, dem Aussehen nach der älteste, war ein Mensch. Ein Ritter, nach der Kleidung und nach dem grauen Haar zu urteilen, das so geschnitten war, dass es unter einen Helm passte.

»Ich bin Chireadan«, stellte sich der größere der Elfen vor, der mit dem ausdrucksvollen Gesicht. Wie üblich bei den Vertretern des Älteren Volkes, ließ sich sein Alter nicht schätzen; er konnte ebenso gut zwanzig und hundertzwanzig Jahre alt sein. »Und das ist mein Verwandter Errdil. Dieser Edelmann aber ist der Ritter Vratimir.«

»Ein Edelmann«, murmelte Geralt, doch ein genauerer Blick auf das auf den Waffenrock genähte Wappen zerstörte seine Hoffnungen: Auf dem viergeteilten Schild mit goldenen Lilien lag schräg ein silberner Balken. Vratimir entstammte nicht nur einer illegitimen Verbindung, sondern auch einer gemischten von Mensch und Nichtmensch. Als solcher konnte er, wenngleich er ein Wappen führte, nicht als vollwertiger Edelmann gelten, und zweifellos stand ihm nicht das Privileg zu, nach Sonnenuntergang das Tor zu passieren.

»Leider« – der Blick des Hexers war dem Elf nicht entgangen – »müssen auch wir hier aufs Morgengrauen warten. Das Recht kennt keine Ausnahmen, zumindest nicht für solche wie uns. Leistet uns bitte Gesellschaft, Herr Ritter.«

»Geralt von Riva«, stellte sich der Hexer vor. »Ich bin Hexer, kein Ritter.«

»Was ist mit ihm?« Chireadan wies auf Rittersporn, den die Wächter inzwischen auf die Bettstatt gelegt hatten. »Sieht aus wie eine Vergiftung. Wenn es eine Vergiftung ist, dann kann ich ihm helfen. Ich habe eine gute Arznei bei mir.«

Geralt setzte sich, worauf er einen kurzen Bericht vom Vorfall am Fluss gab. Die Elfen wechselten Blicke. Der grauhaarige Ritter runzelte die Stirn und spuckte durch die Zähne.

»Unheimlich«, sagte Chireadan. »Was kann das gewesen sein?«

»Ein Flaschengeist«, murmelte Vratimir. »Wie im Märchen . . .«

»Nicht ganz.« Geralt zeigte auf Rittersporn, der zusammengekrümmt auf der Pritsche lag. »Ich kenne kein Märchen, das so ausgeht.«

»Die Verletzungen dieses Ärmsten«, sagte Chireadan, »sind augenscheinlich magischer Natur. Ich fürchte, dass meine Medikamente da nicht viel nützen. Aber ich kann wenigstens seine Leiden lindern. Hast du ihm irgendeine Arznei gegeben, Geralt?«

»Ein Elixier gegen Schmerz.«

»Komm, du wirst mir helfen. Du kannst ihm den Kopf halten.«

Rittersporn trank gierig die mit Wein vermischte Medizin, verschluckte sich, begann zu husten, bespie das lederne Kissen.

»Ich kenne ihn«, sagte der andere Elf, Errdil. »Das ist Rittersporn, der Troubadour und Dichter. Ich habe ihn einmal gesehen, als er am Hof von König Ethain in Cidaris gesungen hat.«

»Ein Troubadour«, wiederholte Chireadan und sah Geralt an. »Schlecht. Sehr schlecht. Seine Halsmuskeln und die Kehle sind verletzt. An den Stimmbändern beginnen schon Veränderungen. Man muss schleunigst die Wirkung des Zaubers beenden, denn sonst ... Das kann unumkehrbar sein.«

»Das heißt ... Heißt das, er wird nicht mehr sprechen können?«

»Reden schon. Vielleicht. Aber nicht singen.«

Ohne ein Wort zu sagen, saß Geralt am Tisch, die Stirn auf die gefalteten Hände gestützt.

»Ein Zauberer«, sagte Vratimir. »Es braucht eine magische Arznei oder einen Heilspruch. Du musst ihn in irgendeine andere Stadt bringen, Hexer.«

»Wie das?« Geralt hob den Kopf. »Und hier in Rinde? Gibt es hier keinen Zauberer?«

»In ganz Redanien sieht es nicht gut aus mit Zauberern«, erklärte der Ritter. »Nicht wahr, ihr Herren Elfen? Seit König Heribert Zauberei mit einer halsabschneiderischen Steuer belegt hat, boykottieren die Zauberer die Hauptstadt und jene Städte, die die königlichen Anordnungen mit Eifer ausführen. Und wie ich gehört habe, sind die Ratsherren von Rinde berühmt für ihren Eifer in dieser Sache. Nicht wahr? Chireadan, Errdil, habe ich recht?«

»Hast du«, bestätigte Errdil. »Aber ... Chireadan, darf ich?«

»Du musst sogar«, sagte Chireadan. »Wozu ein Geheimnis draus machen, es wissen sowieso alle, ganz Rinde. In der Stadt, Geralt, hält sich im Augenblick eine gewisse Zauberin auf.«

»Sicherlich inkognito?«

»Nicht besonders.« Der Elf lächelte. »Die Person, von der ich spreche, ist eine große Persönlichkeit. Sie ignoriert sowohl den Boykott, mit dem der Rat der Zauberer Rinde belegt hat, als auch die Anordnungen der hiesigen Ratsherren, und sie fährt blendend dabei, denn der Boykott bewirkt, dass es hier eine gewaltige Nachfrage nach magischen Diensten gibt. Natürlich zahlt die Zauberin keine Steuern.«

»Die Zauberin wohnt in der Residenz eines gewissen Kaufmanns, der einer Faktorei von Nowigrad vorsteht und gleichzeitig Titulargesandter ist. Niemand kann sie dort anrühren. Sie genießt Asyl.«

»Es ist eher ein Hausarrest als Asyl«, berichtigte Errdil. »Sie ist dort praktisch gefangen. Aber über Mangel an Kunden kann sie sich nicht beklagen. An reichen Kunden. Auf die Ratsherren pfeift sie demonstrativ, veranstaltet Bälle und Gelage . . .«

»Die Ratsherren ihrerseits sind wütend, bringen jeden gegen sie auf, den sie nur können, ruinieren ihren Ruf nach Kräften«, fügte Chireadan hinzu. »Sie setzten widerwärtige Gerüchte über sie in Umlauf, sicherlich in der Hoffnung, dass der Hierarch von Nowigrad dem Kaufmann verbietet, ihr Asyl zu gewähren.«

»Ich stecke meine Finger nicht gern in solche Mühlen«, murmelte Geralt. »Aber mir bleibt keine Wahl. Wie heißt dieser Kaufmann und Gesandte?«

»Beau Berrant.« Dem Hexer schien es, dass Chireadan das Gesicht verzog, als er den Namen aussprach. »Doch es ist wirklich deine einzige Chance. Oder besser, die einzige Chance dieses armen Kerls, der dort auf dem Bett stöhnt. Ob dir die Zauberin aber wird helfen wollen ... Ich weiß nicht.«

»Pass auf, wenn du dort hingehst«, sagte Errdil. »Die Spitzel des Bürgermeisters halten das Haus unter Beobachtung. Wenn sie dich aufhalten sollten, weißt du, was zu tun ist. Geld öffnet alle Türen.«

»Ich gehe, sobald das Tor geöffnet wird. Wie heißt die Zauberin?«

Geralt kam es vor, als bemerke er auf Chireadans ausdrucksvollem Gesicht einen Anflug von Röte. Es konnte aber auch nur ein Widerschein des Kaminfeuers sein.

»Yennefer von Vengerberg.«

Der letzte Wunsch
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